Studentin rekonstruiert den Kriminalfall „Seidenfaden“
Obernkirchen (ms). Am
Heiligen Abend 1829 wurde Johann Heinrich Seidenfaden zum Tode verurteilt.
Der Vorwurf: heimtückischer Mord. Am 6. Februar 1837 wurde der Obernkirchener
öffentlich hingerichtet, vermutlich als letzter Schaumburger. Der
Prozess bewegte das Volk – damals wie heute. Die Geschichtsstudentin Johanna
Lindner wird ein Buch über den dramatischen „Fall Seidenfaden“ schreiben.
Detektivische Kleinstarbeit:
Mit Hilfe von 200 Jahre alten Stadtkarten macht sich Johanna Lindner ein
Bild von dem Obernkirchen, in dem Johann Heinrich Seidenfaden lebte. Seidenfaden
war der letzte Schaumburger, der öffentlich hingerichtet wurde.
Das trübe Novemberwetter
kommt Johanna Lindner gerade recht. Dick eingemummelt stapft die 36-jährige
Hannoveranerin durch „Bornemanns Tannen“. „Hier irgendwo muss der Tatort
gewesen sein.“ Eine Stunde später breitet sie im Berg- und Stadtmuseum
200 Jahre alte Stadtkarten aus. „Hier hat Seidenfaden gewohnt, hier sein
Kumpel Mühlhaus.“ Sie erzählt von geheimen Treffen, von einer
Diebesserie und den zahlreichen Legenden, die sich um die Person Seidenfaden
ranken. Sein Name lebt bis heute in Erzählungen und Kinderreimen fort.
Wie kommt eine Hannoveranerin an eine Obernkirchener Kriminalgeschichte?
Johanna Lindner besuchte mehrere Seminare bei dem Dozenten Dr. Karl-Heinz
Schneider aus Röhrkasten. Als ihr Interesse für die schaumburger
Regionalgeschichte geweckt war und sie Material zum Thema „Frauen und Kriminalität“
suchte, geriet sie an Rolf Bernd de Groot, den Leiter des Obernkirchener
Museums. Aus der einen Geschichte ergab sich schnell die nächste,
Johanna Lindner war gefesselt. Dass die Studentin schreiben kann, beweist
sie in dem gerade veröffentlichten Buch „Geschichte Schaumburger Frauen“
(herausgegeben von der Schaumburger Landschaft; 29,80 Mark). Johanna Lindner
hat eine Biographie über die Obernkirchenerin Charlotte Mühlhaus
verfasst, eine „einfache Kriminelle“. Ihre zweite Geschichte hat den Hauptdarsteller
Johann Heinrich Seidenfaden. Zusammen mit Wilhelm Mühlhaus, dem Vater
von Charlotte, wurde er wegen Mordes an einem Nagelschmied-Gesellen zum
Tode verurteilt. Beide wurden in Rinteln durch das Schwert gerichtet.
Was das Gerechtigkeitsempfinden
der damaligen Bürger durcheinanderbrachte: Nach der Verurteilung durch
das Obergericht in Rinteln floh Seidenfaden, machte bei der holländischen
Armee Karriere und gelangte als „tapferer, ehrenwerter Soldat“ nach Westindien.
Per Zufall wurde er dort von dem Krainhäger Seemann Null entlarvt
und nach Deutschland ausgeliefert. Der „Fall Seidenfaden“ wurde im Lauf
der Jahrzehnte mehrmals veröffentlicht, die Schwerpunkte setzten die
Schreiber individuell nach dem jeweiligen Zeitverständnis. Mal wurde
Seidenfaden als die Personifizierung des Bösen verdammt, mal seine
Hinwendung zum Guten betont. „Ich werde mich strikt an die Quellen halten“,
verspricht Johanna Lindner. Unterstützt wird sie von Rolf Bernd de
Groot und Stefan Meyer, dem Historiker beim Heimatbund der Grafschaft Schaumburg.
In einem halben Jahr will Johanna Lindner den letzten Punkt unter die Geschichte
gesetzt haben, eine Ausstellung soll folgen. Ihr Traum: den „Fall Seidenfaden“
zu einem Buch zu binden. Den Stoff für einen packenden Roman gibt
das Schauerschicksal zweifellos her. Würde dieses Buch später
im Obernkirchener Geschichtsunterricht gelesen werden, spätestens
dann, ist sich Johanna Lindner sicher, hätte sich jede Minute ihrer
Arbeit gelohnt.
© Landes-Zeitung, 14.11.2000